
Der einsame Wolf
Als junge Ökonomin erlebte ich 1997/98 die Finanzkrise in Asien vor Ort. Wie die Finanzkrise von 2008/09 in der westlichen Welt, hinterliess die Krise eine tiefe Verunsicherung bei den Menschen in Asien. Das Schicksal meines Kollegen bleibt mir in besonderer Erinnerung. Als Ökonom kommentierte er weiter über die desaströsen wirtschaftlichen Folgen der Krise, als der Finanzmarkt diese schon längst hinter sich gelassen hatte. Innerhalb der Industrie wurde mein Kollege zum einsamen Wolf, dem niemand mehr zuhören wollte.
Ich sehe Parallelen zur aktuellen Situation. Seit 6 Monaten ist Präsident Trump im Amt, hat Zölle eingeführt, Handelspartnern gedroht, dem Arbeitsmarkt mit seiner Migrationspolitik Arbeitnehmer entzogen und den amerikanischen Staatshaushalt mit seiner BigBeautiful Bill auf eine noch schiefere Bahn geschickt. Nach einem kurzen, heftigen Einbruch im April haben sich die Finanzmärkte erholt. Der amerikanische Leitindex S&P500 hat im Juli einen neuen Rekordstand erreicht, die langfristigen Kapitalmarktzinsen in den USA sind wieder auf dem Stand von Anfang des Jahres, und selbst der US-Dollar, dem die Turbulenzen in den letzten Monaten anhaltend geschadet haben, hat sich jüngst wieder leicht erholt.
US-Wirtschaft hat die Zollpolitik bisher gut verkraftet
Die Reaktion der Finanzmärkte mag überraschen, irrational ist sie aber nicht. Die Zölle haben wider Erwarten nicht zu Lieferengpässen, Chaos und wirtschaftlichem Einbruch geführt. Die amerikanische Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist unverändert und die Margen der Unternehmen sind nicht eingebrochen. Erste Anzeichen der Zölle sind ersichtlich bei der Inflation. Im Juni kletterte die Inflationsrate auf 2.7% von 2.4% im Mai, was im Rahmen meiner Erwartungen liegt, wonach die Einführung der Zölle eine zusätzliche Inflation von etwa 1bis 1,5 Prozentpunkten verursachen würde.
Die Finanzmärkte wollen im Moment nichts hören von den Warnungen von uns Ökonominnen und Ökonomen, dass die Zoll- und Migrationspolitik sowie die nicht-nachhaltige Haushaltspolitik der amerikanischen Wirtschaft schaden dürften. Vielleicht liegt darin die grösste Gefahr. PräsidentTrump dürfte sich von der Resilienz der Wirtschaft und der Märkte bestätigt fühlen und riskiert, den Bogen mit seiner protektionistischen und selbstnutzenden Agenda zu überspannen.
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